In Verbindung bleiben: Nicola Schmidt vom Artgerecht Projekt

In Verbindung bleiben: Nicola Schmidt vom Artgerecht Projekt

Was bewegt dich? Mit dieser Frage besuchen wir Menschen, die Steine ins Rollen bringen und die Welt ein bisschen besser machen. Die Ideen vorantreiben, die Neues wagen und andere Wege gehen.

Unser kleines Interviewteam wartet auf dem Hügel im Süden von Alfter, einer Kleinstadt bei Bonn. Ein alter Wasserspeicher steht hier, eine freiwillige Feuerwehr wartet auf ihren Einsatz und die Aussicht über das Tal reicht bis ins Siebengebirge.

Nicola radelt den Hügel hinauf zu uns, die lockigen Haare wippen auf und ab und bereits von weitem ruft sie uns eine herzliche Begrüßung zu. 

Nicola ist Autorin von unter anderem “artgerecht - das andere Babybuch” und "Erziehen ohne Schimpfen" und leitet Familiencamps in der Wildnis.

Jeden Adventssonntag wollen wir auf dem Blog einen unserer Werte vorstellen. “Faire und langfristige Beziehungen gestalten” ist einer und den teilen wir mit Nicola. Bei ihr sind es vor allem die Beziehungen von Eltern zu ihren Kindern, die gestärkt werden sollen.

Anna: Wie bist du dahin gekommen, wo du heute bist?

Nicola: Ich beschäftige mich schon immer mit der Frage, wie Menschen zusammen leben. Ich habe Politikwissenschaft studiert und wollte eigentlich Diplomatin werden - weil ich so die Welt verändern wollte - aber dafür braucht man Geduld und die habe ich nicht. Also bin ich Journalistin geworden. Als Studentin habe ich dann in einem Computerladen gearbeitet und so war - Ende der 90er - eines meiner Schwerpunkte das Digitale - heute bin ich dahin ja mit Social Media zurückgekehrt.

2008 kam mein Ältester drei Wochen vor dem errechneten Termin auf die Welt und ich war noch völlig unvorbereitet. Ich hatte nichts anzuziehen für das Baby, keinen Schnuller, keine Windel - aber ich hab mir gedacht: Das kriegen wir schon hin. Ich habe nur gemacht, was sich irgendwie ergeben hat und richtig anfühlte: ihn viel getragen, gestillt wenn ich dachte, dass er Hunger hat, bei mir schlafen lassen ... Bis die ersten Kommentare von außen kamen: Du musst ihn auch mal schreien lassen, du darfst ihn nicht so viel tragen. Und dann war ich verwirrt. 

Aber ich dachte mir: Was ist deine Ausbildung, was kannst du wirklich gut? Recherchieren! Also habe ich angefangen, Studien zu lesen. Und habe festgestellt, dass fast alle Wissenschaftler_innen der gleichen Meinung waren wie mein Baby und ich. 

Dadurch habe ich angefangen zu schauen, was die Wissenschaft sagt. Und die sagt: tragen, stillen etc sind cool. Aber “da draußen” wusste das scheinbar niemand, da hörte ich ständig: “Schreien lassen, Kinderwagen, Durchschlaftraining”.

Also habe ich angefangen, darüber zu bloggen. Ich hab mit dem Thema “windelfrei” angefangen und schnell gemerkt, dass es total viele Leute gab, die daran Interesse haben. Aber kaum jemanden, der etwas darüber weiß. Über den Blog kamen die ersten Vortragsanfragen und dann das Interesse an Kursen zu dem Thema. 

So saß ich plötzlich mit drei Frauen in meinem Wohnzimmer und erklärte “Ausscheidungskommunikation” von Babys.

Anna: Also du kamst über die persönliche Erfahrung zum Blog und zu den ersten Kursen?

Nicola: Ja, das hat natürlich Zeit gebraucht, ich mach das Ganze jetzt seit 10 Jahren. Als vor sieben Jahren meine Tochter kam, habe ich festgestellt, dass es verschiedene Säuglings Temperamente gibt. Das wissen auch die wenigsten. Dass wir 40% einfache Säuglinge haben, 10% schwierige, 30% langsame Anpasser, ... bei dem man denkt, wenn man ein Kind hat: “Drama, schwieriges Kind”, und beim zweiten denkt man sich: “Hm, kann nicht an mir liegen, das zweite Kind ist viel einfacher”. Also hab ich angefangen, mich in das Thema einzuarbeiten und das Babybuch geschrieben.

Anna: Wo hast du das Gefühl, dass du einen Mehrwert lieferst?

Nicola: Das schönste Feedback, was ich neulich bekommen habe war, dass jemand sagte: “Nicola, du bist die Greta Thunberg der Liebe!”

Und ansonsten, ich hab mir so gewisse Dinge vorgenommen. Naturverbindung, Menschenverbindung, Stärken von Eltern. Bei den Wildnis Camps zum Beispiel wollte ich, dass das für die Beteiligten eine lebensverändernde Erfahrung wird. Und das ist interessanterweise auch die Rückmeldung, die wir kriegen. Allein dieses Gefühl, umsorgt zu sein. Wir fragen  die Teilnehmer_innen: Was brauchst du, was können wir für dich tun? 

Und ganz viele Leute sagen, das hätten sie im Alltag überhaupt nicht. 

Das ist das, was wir in den Camps vermitteln. Wir vermitteln, dass Kinder nichts Böses wollen, dass wir alle gut sind und auch Kleinkinder kooperieren wollen. Und das ist für viele so befreiend, dass es nicht heisst: “Dein Kind ist ein Tyrann und du musst dich bloß durchsetzen.” Besonders für viele Väter ist das eine neue Erfahrung, die sitzen hier am Anfang immer besonders skeptisch in den Camps. Die Frau hat ihnen die Teilnahme am Camp “geschenkt” und sie wollen erst mal gucken. Und dann reflektieren sie ihre Erlebnisse und sagen: “Stimmt, das hat mir als Kind auch weh getan, das hat mich auch verletzt. Aber ich habe nie reflektiert, dass das nicht an mir lag, sondern an den anderen”.

Den Leuten diese Kraft wieder zugeben, dass sie ihren Kindern vertrauen dürfen, auf ihre eigene Kraft bauen, dass sie sich selber lieben dürfen - Ihr könnt das! sagen wir ihnen ... das ist total schön.

Anna: Wann bist du wirklich du?

Nicola: Wenn ich mit meinen Kindern am Lagerfeuer sitze. Feuer hat auf mich eine magische Anziehungskraft. Darum habe ich auch einen Job, der es so aussehen lässt als würde ich den ganzen Sommer arbeiten, aber eigentlich darf ich mit coolen Leuten vier Wochen lang am Feuer sitzen. Ich liebe besonders auch das Feuer machen, die Herausforderung bei nassem Wetter. Wir machen da ja Feuer mit natürlichen Materialien und nur einem Streichholz. Und gerade bei so einem Wetter wie heute, ist das eine Herausforderung. Aber auch sehr meditativ. Meine Kinder können das inzwischen auch schon selber.

Anna: Was motiviert dich, was gibt dir Kraft, wofür brennst du?

Nicola: Was mich wirklich motiviert, ist Veränderung. Weil ich jeden Tag durch diesen Wald gehe und denke, wir müssen diesen Planeten lebenswert erhalten. Die Erde braucht uns nicht, aber wenn wir weiter auf dieser Erde leben wollen, dann sollten wir etwas tun. Mein Mann arbeitet in einem internationalen Führungskräfteprogramm in der Entwicklungshilfe - auch er arbeitet an Naturverbindung. Aber wenn ich mir die Führungskräfte  dieser Welt ansehe und die Bücher von Erich Fromm lese, dann weiß ich einfach, dass die Leute, die derzeit die Erde nicht achten, meistens eine total krasse Kindheit hatten. Sonst wären sie nicht so. Das heisst, mein Ziel ist, die Kindheit der Menschen zu verbessern, damit wir mehr naturverbundene, bindungsstarke Menschen in den Führungsriegen haben. Und am Ende steht “artgerecht” genau dafür: Ich will, dass wir gute Kindheiten schaffen, dass wir Eltern helfen, stabile, bindungsstarke, konfliktfähige, krisenresistente, stressresistente Kinder zu erziehen. Damit wir eine Führungsriege bekommen und Menschen, die für diesen Planeten kämpfen können. Und das ist das, wofür wir jeden Tag arbeiten. Es geht also ‘nur’ vordergründig um Babys, aber eigentlich geht es darum, eine Generation heranwachsen zu lassen, die sagt: “Dieser Baum wird nicht abgeholzt und ich lasse meinen Garten nicht zu betonieren.” Und am Ende sind es diese kleinen Entscheidungen, die einen Unterschied machen. Deswegen auch die Camps. Da erleben wir ganz viel Naturverbindung mit den Kindern, um die Kinder an unseren Planeten zu binden. Dafür sind ja auch eure Schuhe super, damit hat man den Kontakt zum Boden und spürt auch: ist das weich, ist das fest, geht es runter ... ein schöner Ausdruck davon, dass man den Kontakt, die Verbindung wieder hat mit dem Planeten, auf dem wir leben. Das bedeutet für mich in Wildlingen durch den Wald laufen: Mit dem Boden und dem Planeten in Kontakt bleiben.

Anna: Was bewegt dich und was möchtest du bewegen?

Nicola: Ich glaube, das Problem unserer Gesellschaft ist, dass sie keine Vision hat. Wir wissen irgendwie: So geht es nicht weiter. Aber wir können uns keine alternative Zukunft vorstellen. Ich versuche, den Leuten mit meinen Büchern eine Vision zu geben, zu sagen: Schau mal, so könnte es aussehen. Weil ich weiß, wenn ich ihre Herzen erreichen kann, dann gehen sie vorwärts. Wenn ich nur ihre Köpfe erreiche, dann haben sie es morgen in ihrem Stress vergessen. Man muss den Menschen zeigen, wo es hingehen kann.

Anna: Was ist deine Vision, wie soll das weiter gehen?

Nicola: Wir wollen helfen, die Erde gesund zu erhalten - das ist das, was über allem steht. Dazu gehören gesunde Kindheiten und starke Eltern. Ich hab dazu noch mehrere Projekte und Visionen.

Langfristig  planen wir “artgerecht wohnen”. Ich kenne so viele Eltern, die sagen: “Uns fällt mit den kleinen Kindern die Decke auf den Kopf, wir suchen Anschluss. Wir suchen eine Gemeinschaft.” Und ich wünschte, ich könnte dann sagen: “Kein Problem, kommt in unser Wohnprojekt, da könnt ihr zehn Jahre bleiben, bis die Kinder aus dem Gröbsten raus sind.” Das wäre so schön, gerade für Alleinerziehende, die sich oft so verlassen fühlen.

Aber ganz konkret als nächstes werden wir Online-Kurse anbieten und ich möchte mit dem neuen Buch “Erziehen ohne Schimpfen” gerne Supermarktmitarbeiter_innen schulen. Denn mit Kindern wird  am häufigsten und schlimmsten im Supermarkt geschimpft, sagt die Studienlage.

Und jetzt stell dir mal vor, man hätte Supermarktkräfte, die empathisch auf die Kinder und  auf die Eltern reagieren. Die dann sowas sagen wie: “Ja, es ist halb sechs Abends, schon schwer um diese Uhrzeit und du hättest so gern diesen Schokoriegel und jetzt gibts gleich Abendessen ... ich versteh das.”

Wenn ich das alles geschafft habe und wir dann noch genug Bäume gepflanzt haben, damit wir das 2-Grad-Ziel erreichen - dann setze ich mich zur Ruhe.

 

Liebe Nicola, wir sind uns sicher, dass dir auch danach noch Vieles einfällt! Danke für das tolle Interview! 

Das gesamte Interview findet ihr hier.

Titelbild: About little J